Der besondere Fall – Geriatrie
Falldokumentation
VORGESCHICHTE
Die 72-jährige Patientin, Frau H.M., leidet an einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung und lebt aufgrund eines komplexen, pflegerischen Unterstützungsbedarfs seit circa ½ Jahr in einem Seniorenheim. Frau H.M. ist bettlägerig und muss gelagert werden. Sie kann tagsüber mit Hilfe von 2 Pflegekräften stundenweise in einem Multifunktionsrollstuhl mobilisiert werden. Es besteht eine Harn- und Stuhlinkontinenz. Als Vormedikation besteht eine Bedarfsmedikation mit Metamizol bei Schmerzen und/oder Fieber.
Es existiert ein Trink- und Ernährungsplan, da Frau H.M. wenige Monate zuvor im Rahmen einer Covid-Erkrankung einen signifikanten Gewichtsverlust von circa 10% ihres Körpergewichts erlitten hatte. Durch Nahrungsanreicherung mit Maltodextrin und Verabreichung hauseigener, hochkalorischer Getränke konnte der Gewichtsverlust gestoppt werden. Das Pflegepersonal berichtet, dass Frau H.M. weiterhin regelmäßig zum Trinken und Essen animiert werden muss. Die Getränke müssen hergerichtet und die Speisen mundgerecht zubereitet werden.
UNTERSUCHUNGBEFUND
Bei dem ärztlichen Erstkontakt zeigt Frau H.M. kaum eine Reaktion. Sie wirkt in sich gekehrt, mürrisch und lässt die ärztliche Untersuchung ohne wesentliche weitere Reaktion über sich ergehen. Der Hautturgor ist herabgesetzt. Bei der Hautinspektionen zeigen sich ein 2x3cm großer, flacher Dekubitus im Bereich des rechten Gesäßes und eine weitere, 1,2cm durchmessende Dekubitalläsion über dem linken Sitzbein
Der Ernährungszustand ist eingeschränkt. Frau H.M. wiegt 55kg bei einer Körpergröße von 1,65m. Der resultierende BMI von 20,2kg/m2 hat in den letzten 3 Monaten keine Veränderung erfahren.
Ernährungsscreening:
Malnutrition Universal Screening Tool (MUST):
- BMI >/= 20kg/m2: 0 Punkte
- Ungewollter Gewichtsverlust
>/= 10% in den letzten 6 Monaten: 2 Punkte
- Keine Akuterkrankung: 0 Punkte
Gesamtpunktzahl: 2 Punkte
- Hohes Gesamtrisiko für eine Mangelernährung,
Indikation zur Ernährungstherapie
Minimal Nutrition Assessment Short Form (MNA-SF):
- Keine Abnahme der Nahrungsaufnahme: 3 Punkte
- Kein Gewichtsverlust binnen 3 Monaten: 3 Punkte
- Bettlägerigkeit: 0 Punkte
- Keine Akuterkrankung: 2 Punkte
- Höhergradige Demenzerkrankung: 0 Punkte
- BMI zwischen 19 – 21 kg/m2: 1 Punkt
Ergebnis des Screenings: 9 Punkte (max. 14 Punkte)
- Risiko für Mangelernährung
Nutritional Risk Score 2002 (NRS 2002):
Vorscreening: positiv bei BMI < 20,5 kg/m2
Hauptscreening:
- BMI zwischen 18,5 und 20,5 kg/m2 und reduzierter Allgemeinzustand
=> Mäßige Störung des Ernährungszustands: 2 Punkte
- Keine Krankheitsschwere: 0 Punkte
- Alter >/= 70 Jahre: 1 Punkt
Gesamtpunktzahl: 3 Punkte
- Ernährungsrisiko liegt vor,
Erstellung eines Ernährungsplans empfohlen
Der NRS 2002 wurde ursprünglich für die Krankenhaussituation entwickelt. Mit Hilfe der ermittelten Punktzahl kann die einteilende Codierung der Mangelernährung nach ICD-10 untermauert werden (Reinbold T et al, 2013):
NRS-Score | Diagnose | ICD-10-Code |
2 Punkte | Leichte Energie- und Mangelernährung | E44.1 |
3 Punkte | Mäßige Energie- und Mangelernährung | E44.0 |
Ab 4 Punkte | Erhebliche Energie- und Eiweißmangelernährung | E43 |
DIAGNOSE und THERAPIE
Aufgrund der bestehenden, als mäßiggradig einzuschätzenden Mangelernährung (Diagnose nach ICD-10: E44.0) wird das Betreuungspersonal angehalten, die Gewichtssituation engmaschig zu beobachten und die Nahrungsaufnahme intensiv zu überwachen. Die hauseigenen, hochkalorischen Getränke sollen weiterhin als Zusatzkost angeboten werden.
Die Wundbehandlung erfolgt über ein externes Wandmanagement. Frau H.M. wird nach Plan gelagert, sie ist mit Lagerungskissen und einer Weichlagerungsmatratze versorgt.
AKUTERKRANKUNG
Nach wenigen Wochen kommt es bei Frau H.M. zu einem fieberhaften Infekt, gefolgt von Erbrechen, das rezidivierend circa 1 Woche anhält. Die Symptomatik sistiert spontan, die Genese bleibt unklar. Frau H.M. nimmt in der Zeit sowie danach nur sehr eingeschränkt Nahrung zu sich. Die Wundsituation zeigt eine deutliche Verschlechterung mit Ausbildung eines sakralen Dekubitus Grad IV mit Haut- und Fettgewebsnekrosen und zum Teil sichtbaren Knochenanteilen am Wundgrund. Es kommt zu einer fieberhaften Wundinfektion mit umgehend erforderlicher, stationärer Einweisung der Patientin. Frau H.M. erhält eine kalkulierte i.v.-Antibiose und ein umfassendes, operatives Wunddebridgement. Zur Eindämmung weiterer Wundkomplikationen erfolgt die Versorgung mit einem transurethralen Dauerkatheter. Die Wundkontrolle nach 1 Woche zeigt einen auf 6x9cm ausgedehnten, sakralen Dekubitus. Die Wunde ist sauber mit frischem Granulationsgewebe am Wundgrund.
Nach der Rückverlegung in das Pflegeheim zeigt Frau H.M. weiterhin ein deutlich eingeschränktes Essverhalten. Sie nimmt die angebotenen Hauptmahlzeiten nicht zu sich, sondern verzehrt ausschließlich angereichte Puddings, Cremespeisen sowie Süßgetränke. Frau H.M. hat in dem Zeitraum von weniger als 3 Monaten 9,3kg Körpergewicht verloren, entsprechend einem Gewichtsverlust 17%. Frau H.M. wiegt aktuell 45,7kg, ihr BMI beträgt 16,8kg/m2.
Kontrolle des Ernährungsscreenings:
Malnutrition Universal Screening Tool (MUST):
- BMI < 18,5kg/m2: 2 Punkte
- Ungewollter Gewichtsverlust
>/= 10% in den letzten 6 Monaten: 2 Punkte
- Akuterkrankung: 2 Punkte
Gesamtpunktzahl: 6 Punkte (vorher 2 Punkte)
- Hohes Gesamtrisiko für eine Mangelernährung,
Indikation zur Ernährungstherapie
Mini Nutritional Assessment Short Form (MNA-SF)
- Nestlé Nutrition Institut:
- Starke Abnahme der Nahrungsaufnahme: 0 Punkte
- Gewichtsverlust > 3kg: 0 Punkte
- Bettlägerigkeit: 0 Punkte
- Akuterkrankung: 0 Punkte
- Höhergradige Demenzerkrankung: 0 Punkte
- BMI < 19kg/m2: 0 Punkte
Ergebnis des Screenings: 0 Punkte (vorher 8 von 14 Pkten)
- Mangelernährung
Nutritional Risk Score 2002 (NRS 2002):
Vorscreening:
- BMI < 20,5kg/m2 Ja
- Gewichtsverlust binnen 3 Monaten Ja
- Verminderte Nahrungszufuhr in der vergangenen Woche Ja
- (Schwere) Erkrankung) Ja
Hauptscreening:
- Gewichtsverlust > 15%/3Mon., BMI < 18,5kg/m2
und reduzierter Allgemeinzustand
=> Schwere Störung des Ernährungszustands: 3 Punkte
- Krankheitsschwere: 1 Punkt
- Alter >/= 70 Jahre: 1 Punkt
Gesamtpunktzahl: 5 Punkte (vorher 3 Punkte)
- Ernährungsrisiko liegt vor,
Erstellung eines Ernährungsplans empfohlen
DIAGNOSE und THERAPIEANPASSUNG
Alle 3 Erhebungsbögen weisen mit ihren veränderten Punktescores auf eine Verschlechterung der Ernährungssituation bei Frau H.M. Bei 5 Punkten im NRS 2002 besteht inzwischen eine erhebliche Energie- und Eiweißmangelernährung (E43).
Abschätzung des Energie- und Eiweißbedarfs:
- Unter der Annahme eines täglichen Energiebedarfs von 30kcal/kg KG sollte Frau H.M. möglichst 1400kcal/Tag zu sich nehmen.
- Der Eiweißbedarf ist aufgrund der Wundsituation erhöht mit schätzungsweise 1,2 – 1,5g Prot/kg KG/Tag, entsprechend 55 – 70g Prot/Tag.
Da Frau H.M. bereits eine hauseigene hochkalorische Zusatzkost inklusive Nahrungsanreicherung erhält, erfolgt gemäß des Stufenschemas der Ernährungstherapie (Plauth M et al, 2021) die zusätzliche Verordnung von oralen Nahrungssupplementen. Aufgrund der beobachteten Vorlieben werden Frau H.M. dabei neben Trinkflaschen auch Cremes und Yoghurtcremes angeboten. Die Nahrungssupplemente werden als Mischkartons rezeptiert, um eine möglichst breite Geschmacksauswahl zu ermöglichen. Unterstützt durch die pflegerische Zuwendung gelingt es, dass Frau H.M. täglich durchschnittlich 3 unterschiedliche Nahrungssupplemente zu sich nimmt. Dies entspricht einer zusätzlichen Energiezufuhr von 900 – 1000kcal/Tag und einer zusätzlichen Einweißzufuhr von 40 – 50g/Tag.
VERLAUF
Mit diesen Maßnahmen kann der Gewichtsverlust bei Frau H.M. gestoppt werden. Nach bereits 14 Tagen zeigt sich eine Gewichtszunahme um 0,5kg Körpergewicht. Mit Besserung der Gewichtssituation gewinnt Frau H.M. auch wieder Interesse an festeren Speisen und verzehrt zumindest teilweise die angebotenen Hauptmahlzeiten. Die orale Nahrungssupplementation kann auf 2 Trinknahrungen/Tag reduziert werden (entsprechend 600kcal/Tag und 40g Eiweiß/Tag). Die Trinknahrung wird überwiegend als Zwischenmahlzeit sowie zur Nacht angeboten. Nach 3 Monaten wiegt Frau H.M. 47kg, ihr BMI beträgt 17,26kg/m2. Der sakrale Dekubitus hat sich inzwischen auf eine Größe von 6,5x7cm verkleinert und zeigt in den 2 Folgemonaten eine weitere Verkleinerung auf 3x5cm. Frau H.M. kann wieder in den Rollstuhl mobilisiert werden und so ihre Mahlzeiten gemeinsam mit den anderen HeimbewohnerInnen in dem Gemeinschaftsraum der Einrichtung einnehmen. Dies stellt eine wichtige, unterstützende Maßnahme bei der Therapie der Mangelernährung. Frau H.M. nimmt weiter an Gewicht zu und erreicht nach weiteren 2 Monaten ein Körpergewicht von 53,7kg, entsprechend einem BMI von 19,72kg/m2.
Da der Sakraldekubitus in diesem Zeitraum keine Abheilungstendenz zeigt, wird Frau H.M. zusätzlich mit einem Sitzring zur Druckentlastung versorgt. Darunter schrumpft der Sakraldekubitus binnen 2 Monate auf 2x2cm und ist nach weiteren 6 Monaten abgeheilt.
Mit der Verbesserung des Ernährungszustandes ist Frau H.M. auch deutlich wacher und agiler geworden. Sie beobachtet ihre Umwelt interessiert, benutzt zunehmend eigenständig Geschirr und Besteck und reagiert im Rahmen der ärztlichen Visiten freundlich mit Mimik und Gestik. Aus der initial abweisend-mürrischen Patientin ist – soweit an Mimik und Gestik ablesbar – eine lebensbejahende Pflegeheim-Bewohnerin geworden.
SCHLUSSFOLGERUNG
- Insbesondere pflegebedürftige, ältere Menschen sind anfällig für eine Mangelernährung.
- Durch unterschiedliche Screeningverfahren (MUST, MNA, NRS 2002) kann die Mangelernährung frühzeitig erfasst werden. Mit Hilfe des NRS 2002 kann der Schweregrad der Mangelernährung bestimmt und direkt in eine ICD-10-Diagnose umgesetzt werden.
- Selbst bei milden oder mäßigen Störungen des Ernährungszustandes kann es binnen kurzer Zeit zu erheblichen Komplikationen kommen. Hier ist eine weitere Sensibilisierung aller Beteiligten durch Schulung und Fortbildung zu fordern.
- Die Behandlung der Mangelernährung sollte situativ angepasst (Stufenschema) und konsequent erfolgen. Der Einbezug von Ernährungsfachkräften/DiätassistentInnen ist wünschenswert, scheitert in der Praxis aber meist an der ungesicherten Kostenregulierung.
- Durch eine konsequente Behandlung der Mangelernährung werden die komplizierenden Begleiterkrankungen und die Lebensqualität der betroffenen PatientInnen positiv beeinflusst.
Essen, den 13.10.2024
Dr. Lutz Tünnermann
LITERATUR
https://www.dgem.de/leitlinien
https://www.dgem.de/screening > Malnutrition Universal Screening Tool (MUST)
https://www.dgem.de/screening > Mini Nutritional Assessment (MNA)
https://www.dgem.de/screening > Nutritional Risk Score (NRS)
Pittelkow S, Rubin D Medizinische Ernährungstherapie in Rubin D, Winckler K (Hrsg) Praxishandbuch Ernährungsmedizin; 1. Auflage 2023, Elsevier GmnH Deutschland
Plauth M, Viertel M Enterale und parenterale Ernährung. Aktuel Ernahrungsmed, 2021; 46(06): 401 – 419
Reinbold T et al Mangelernährung im DRG-System. Aktuel Ernahrungsmed. 2013; 38: 24-29
Volkert D et al Leitlinie der Deutschen…Klinische Ernährung in der Geriatrie Aktuel Ernahrungsmed 2013; 38: e1-e48 – AWMF-Register-Nr. 073/019
Volkert D, Wehner N Ernährung und Ernährungsprobleme im Alter in Rubin D, Winckler K (Hrsg) Praxishandbuch Ernährungsmedizin; 1. Auflage 2023, Elsevier GmnH Deutschland