Kontaktieren Sie uns

Bürozeiten

Montag bis Donnerstag
08:00 – 14:00
Freitag
08:00 – 12:00

Schreiben Sie uns eine Nachricht

[contact-form-7 id="263" title="Kontaktformular kurz Side Area"]

Blog

Fallbeispiel für eine ernährungstherapeutische Intervention im Rahmen der Adipositaschirurgie

Patientendaten:

Frau S., 30 Jahre alt, Sozialarbeiterin im Jugendamt, alleinerziehende Mutter einer achtjährigen Tochter.

Anamnese:

Frau S. stellt sich im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes zur Vorbereitung einer bariatrischen OP vor.

Bereits seit früher Kindheit leide sie unter einem Mehrgewicht. Dies sei für sie mit dem Gefühl von hohem Druck und Angst verbunden. Seit dem 15. Lebensjahr habe sie immer wieder Versuche der Gewichtsreduktion unternommen, jedoch sei sie nach maximal 4 Monaten wieder in alte Verhaltensweisen zurückgefallen. Die erneuten Gewichtszunahmen beschreibt Frau S. als „Weltuntergang“. Die Verschreibung eines GLP-1-Rezeptor-Agnonisten zur Gewichtsreduktion sei ärztlicherseits nicht fortgesetzt worden. Nun habe sie den Wunsch, mit Hilfe einer bariatrischen Operation ihr Gewicht zu reduzieren.

Befunde:

BMI 52 kg / m2 (147 kg/1,68 m), phasenweise erhöhte Blutdruckwerte (bis 160/100mmHg), unauffällige Laborparameter, keine Vormedikation.

Diagnosen:

Adipositas Grad III (ICD.10 E66.08), labile arterielle Hypertonie, Angststörung.

Therapie und Verlauf:

Die Indikationsstellung zur bariatrischen Operation erfolgte durch das adipositaschirurgische Zentrum.

Präoperativ soll Frau S. für 3 Monate im Rahmen eines multimodalen Konzeptes ernährungstherapeutisch begleitet werden. Postoperativ soll die ernährungstherapeutische Beratung fortgeführt werden. Seitens der Krankenkasse wurden insgesamt 5 Beratungseinheiten zur Bezuschussung genehmigt. Aus örtlichen Gründen erfolgen die Ernährungsberatungen im online-Setting.

 

ERNÄHRUNGSTHERAPEUTISCHE INTERVENTION:

Präoperative Ernährungsdiagnosen nach dem PESR – Systems des G-NCP

Problem Ätiologie Symptome Ressourcen
Unregelmäßige Mahlzeitenfrequenz (24 Stunden Recall) Verhaltensdefizit,

es werden keine Speisen vorbereitet, welche unterwegs verzehrt werden können

Zu geringe Mahlzeiten-frequenz (1 – 2), mit langen Nahrungspausen: > 12 – 8 Stunden,

Heißhunger am Abend, große verzehrte Portionen am Abend (450 – 500 g)

Phasenweise konnte eine geregelte Mahlzeitenstruktur aufrechterhalten werden

 

Geringe Zufuhr an Obst, Gemüse (< 5 am Tag) und Vollkornprodukten (kein täglicher Verzehr) (FFQ) Wissensdefizit,

die 5 am Tag Regel und die Wirkung der Ballaststoffe ist unbekannt

Zu geringe Ballaststoffzufuhr (< 25 g / Tag) Viele Gemüse & Obstsorten sind bekannt
Geringe Zufuhr an eiweißreichen Lebensmitteln

präoperativ.

Verminderte Zufuhr an Milchprodukten (< 150 g/Tag)

(FFQ)

Wissensdefizit,

viele eiweißreiche Lebensmittel werden in geringer Frequenz verzehrt. Die Bedeutung der Eiweißzufuhr ist unbekannt

Der Sollwert von

118 – 147 g Eiweiß/Tag wird unterschritten: Istwert 60 – 80 g

Wiederkehrendes Hungergefühl nach den Mahlzeiten

Neues Wissen konnte im Prozess der Speisen-zubereitung umgesetzt werden (biologischer Ergänzungswert)

 

GFS > 10 kcal%, Zuckeranteil mit > 10kcal% erhöht (> 10% der ges. Energiezufuhr (FFQ & 24 Stunden Recall)) Verhaltensdefizit,

aufgrund der Kompensation am Wochenende ist der Anteil an GFS hoch

Der Anteil an Zucker wird aufgrund von unregelmäßigen Mahlzeiten erhöht

Viele verarbeitete

Lebensmittel werden verzehrt (Pizza (TK), panierte Schnitzel aus dem Ofen (TK), Eis etc.), Heißhunger wird verspürt

Ausgeprägtes Grazing

Durch Evaluation und die Strukturierung im Alltag, konnte das Kompensationsverhalten am Wochenende und der Anteil an Süßwaren unter der Woche vermindert werden
Eine verminderte Trinkmenge (FFQ- 0,75 l/Tag), über den Tag
Zu hohe Trinkmenge am Abend
Geringe Menge an mitgebrachten Getränken auf der Arbeit

Teils werden die Getränke im Auto vergessen oder stehen am Arbeitsplatz und sind bei Auswärtsterminen unerreichbar

Große verzehrte Trinkmenge am Abend Das Problem ist der Patientin bewusst Ideen ihrerseits können erfolgreich umgesetzt werden

 

Auf der Basis der erkannten Ernährungsprobleme wurden folgende Maßnahmen besprochen und von Frau S. umgesetzt:

Vorbereitung:

  • Essensplanung für die Woche
  • Schreiben einer Einkaufsliste (Planung einbezogen)
  • Regelmäßiges Einkaufen
  • Zweite große Trinkflasche (wiederverwendbar) kaufen

Fortschritte/ Veränderung:

  • Erhöhte Mahlzeitenfrequenz, es entsteht eine dreiteilige Mahlzeitenstruktur
  • Portionsgrößen physiologisch (300 – 350g), kein Heißhunger am Abend, geringere Süßwarenzufuhr, Nahrungspausen von 4 – 5 Stunden
  • Speisenzubereitung mit Hilfe der Telleraufteilung: 50% Gemüse, 25% Eiweiß, 25% Sättigungsbelage (teils in Form von Vollkornprodukten) (Beraten mit der Tellerebene, BZfE)
  • Längeres Sättigungsgefühl durch die erhöhte Zufuhr von Proteinen und Ballaststoffen
  • Tägliches Befüllen der Wasserflaschen: am Arbeitsplatz und im Auto
  • Erhöhung der Trinkmenge (2 l / Tag), die Trinkzufuhr erfolgt über den gesamten Tag.
  • Zubereitung oder Bestellung von Speisen am Wochenende
  • Beachtung der Telleraufteilung (Beraten mit der Tellerebene, BZfE)
  • Absenkung des Anteiles an GSF und verarbeiteten Produkten
  • Erhalt der Nahrungspausen, Verminderung des Grazings

Veränderung der Wahrnehmung:

  • Wiederauftretende, alte Verhaltensweisen, wie verschlechterte Mahlzeitenstruktur oder verringerte Trinkzufuhr,) kommen keinem „Weltuntergang“ mehr gleich, sondern werden im Gespräch oder mit Hilfe eigener Ressourcen erkannt und korrigiert.
  • Frau S. findet in die neu erarbeiteten Verhaltensweisen zurück.
  • Der Gedankengang, dass alle vorherigen guten Tage sinnlos waren, wenn ein Tag schlecht verlief, wird vermindert.
  • Ein kommender Tag kann wieder mit neuen Verhaltensweisen begonnen werden.
  • Die Gedanken können vom Essen und der Lebensmittelauswahl abweichen.
  • Essen wird positiver betrachtet.
  • Das Gefühl Lebensmittel zu genießen kehrt zurück.
  • Die Frequenz des Wiegens wird vermindert.
  • Auf Wunsch wiegt sich Frau S. am Morgen vor unserem Gespräch oder einmal pro Woche. Die Frequenz legt sie selbst fest.
  • Grazing wird erkannt.
  • Appetit und Hunger können differenziert wahrgenommen werden.
  • Frau S. findet Ablenkung in Handarbeiten, Puzzeln etc., um ihrem Snack-Bedürfnis entgegen zu treten.

Im Rahmen des multimodalen Konzepts kann Frau S. ihr Gewicht um vier Kilogramm reduzieren.

Frau S. erhält eine Schlauchmagen-OP (sleeve gastrectomy). Direkt nach der durchgeführten Operation kommt es bei Frau S. zu Schmerzen mittig im linken Abdomen, verbunden mit dyspeptischen Beschwerden und Taubheitsgefühlen. Der Krankenhausaufenthalt wird um einen Tag verlängert. Weitere Interventionen sind chirurgisch-ärztlicherseits nicht erforderlich.

Postoperativ werden die bereits vor der Operation vereinbarten ernährungstherapeutischen Beratungen von Frau S. regelmäßig und auch nach Auslaufen der Bezuschussung durch die Krankenkasse wahrgenommen.

Postoperative Ernährungsdiagnosen nach dem PESR – Systems des G-NCP

Problem Ätiologie Symptome Ressourcen
Zu geringe Portionsgröße (50 -70 g/Hauptmahlzeit, Wiegeprotokoll) Verhaltensdefizit,

aus Sorge vor einer Schmerzsymptomatik und einer verminderten Gewichtsreduktion

Differenz von 50 – 70 g pro Hauptmahlzeit

Starker Schwindel, verstärkte Müdigkeit

Frau S. ist sich des Problems bewusst und wiegt die größere Portionsmenge stichprobenartig ab
Unstrukturierte Einnahme der Vitaminsupplemente (Abfrage) Verhaltensdefizit, die vorgenommene Struktur wird teils verdrängt Langzeitfolgen: Haarausfall, schlechte Hautbarriere, Immunsupression, vermindertes Konzentrations-vermögen Kleine Hilfen im Alltag und das Erinnern an die Verhaltensweisen reichen oftmals aus, um das erarbeitete Verhalten zu reaktivieren
Starkes Konkurrenzdenken mindern (Schilderung der Patientin) Verhaltensdefizit, aufgrund der zuvor lang ausgebliebenen Erfolge bei der Gewichtsreduktion ist das Gefühl von Stolz extrem vorhanden Sorge vor erhöhten Portionsgrößen und einer damit einhergehenden Gewichtszuname Eine ergänzende psychotherapeutische Begleitung ist seit Beginn der Therapie vorhanden
Verminderte Zufuhr des Eiweißsupplements (ca.55 g) (FFQ)

 

Verhaltensdefizit, aus alter Gewohnheit wurde eine laktosehaltige Milch gekauft Diarrhoen, nach dem Verzehr von laktosehaltiger Milch

 

 

Frau S. konnte selbst eine Lösung finden: „laktosefreie Milch“ auf den Einkaufszettel schreiben
Die Lebensmittelauswahl nährstoffreich zu gestalten/ leere Kalorien vermeiden Verhaltensdefizit,

Essen diente lange Zeit der Kompensation von Gefühlen

Frust, Lebensmittel liegen zu lassen, worauf gerade ein Appetitgefühl besteht Aktive Ablenkung suchen, Ressourcen aus der postoperativen Therapiephase nutzten
Essen und Trinken trennen

 

Verhaltensdefizit,

das Trennen erfordert Struktur

Gefühl gestresst und genervt zu sein entsteht Frau S. stellt sich einen Wecker zur Erinnerung an das Trinken

 

Fortschritte:

  • Angemessene Steigerung der Portionsmenge (Ist-Menge 50 – 70 g/Hauptmahlzeit)
  • Hier werden zunächst Rezepte aus der Breiphase verwendet, um die Angst vor Beschwerden zu lindern.
  • Die Angst einer Gewichtszunahme aufgrund erhöhter Portionsmengen wird thematisiert.
  • Das Verwenden der Eiweißsupplemente wird durch das erneute Besprechen verbessert.
  • Frau S. achtet darauf, „laktosefreie Milch“ auf die Einkaufsliste zu schreiben und das Eiweißsupplement täglich einzunehmen.
  • Das regelmäßige Einnehmen der Multivitamin – Supplemente fällt Frau S. nach wie vor schwer.
  • Mit Hilfe eines Weckers und dem Mitführen kleiner Mengen Supplemente, wird die Struktur verbessert. Zusätzlich erinnert sonntags ein Wecker an das Auffüllen der mitzunehmenden Supplemente.
  • Leere Kalorien / Grazing vermeiden
  • Hier kann Frau S. auf bereits präoperativ erarbeitete Ablenkungsstrategien, wie Handarbeit oder Puzzeln, zurückgreifen.
  • Essen und Trinken trennen
  • Häufige Evaluation und Besprechen der Thematik, hier ist noch keine abschließende Lösung gefunden worden.

Durch die erfolgte Schlauchmagenbildung und anschließende Lebensstilintervention erzielt Frau S. binnen 3 Monaten einen weiteren Gewichtsverlust von 27 kg.

Ausblick:

Das Festigen der neuen Verhaltensweisen soll weiterhin erfolgen.

In Bezug auf die ernährungstherapeutische Beratung soll die Motivation durch Zielsetzung erhalten bleiben. Das erste große Ziel von Frau S. ist es, wieder mit ihrer Tochter Achterbahn fahren zu können.

Ein Hund ist neu in die Familie integriert worden. Dies erhöht die Motivation der täglichen Bewegung. Zusätzlich kommt es zu neuen Sozialkontakten. Dies alles kann es Frau S. erleichtern, alte Strukturen zu verlassen. Unterstützend befindet sich Frau S. in psychotherapeutischer Betreuung.

In der Adipositasgruppe werden oft Nachrichten versendet, wie viel Gewicht in welchem Zeitraum reduziert wurde. Frau S. ist sehr stolz darauf, dass sie die höchste und schnellste Gewichtsreduktion erzielen konnte. Es wird in der weiteren ernährungstherapeutischen Beratung zunehmend wichtig sein, den Hauptfokus von der Gewichtsreduktion weg, auf die langfristige Gewichtsstabilisierung zu lenken.

 

Schlussfolgerung aus ernährungsmedizinisch-ärztlicher Sicht:

Die ernährungstherapeutische Beratung ist ein wichtiges Instrument für die Umsetzung der zur Gewichtsreduktion und -stabilisierung notwendigen Lebensstilintervention.

Eine strukturierte Ernährungstherapie kann auch im Online-Setting gut und effektiv durchgeführt werden. Für einen Teil der Betroffenen können Online-Angebote hilfreich sein, um die Schwelle für die Inanspruchnahme einer Ernährungsberatung abzusenken.

Für die Betroffenen ist auch nach einer erfolgten bariatrischen Operation der Zugang zu ernährungstherapeutischen Beratungen wichtig. Potentiell gefährliche Fehler und Fehlentwicklungen des Trink- und Essverhaltens sowie bei der Nahrungssupplementierung können vermieden und die erreichte Gewichtsreduktion langfristig unterstützt werden.

Die ernährungstherapeutische Beratung ist in der täglichen Praxis noch unzureichend etabliert. Dies gilt auch für die frühe Phase einer sich entwickelnden Adipositas. Hier kann das inzwischen gesetzlich freigegebene Disease-Management-Programm (DMP) Adipositas ein wichtiger Schritt hin zu einer verbesserten strukturellen Versorgung sein. Darüber hinaus wäre eine einheitliche und mehr indikationsbezogene Kostenregulierung für die Gewährung von ernährungstherapeutischen Beratungsleistungen wünschenswert. Dies schließt eine Eigenbeteiligung der Betroffenen nicht aus, dürfte aber die Hürden für die Inanspruchnahme von Ernährungsberatungsleistungen absenken.

 

Fallvorstellung:
Mia Scheven
Dr. Lutz Tünnermann

 

Quellen:

Beraten mit der Tellerebene, BZfE / https://www.bzfe.de/beraten-mit-der-tellerebene/

Disease Management Programm Adipositas freigegeben; aerzteblatt.de, 03.04.2024

https://www.vdd.de/fuer-experten/german-nutrition-care-process

Götz M.: Professionelle digitale Ernährungsberatung, Anforderungen und Einsatzmöglichkeiten verschiedener Formate und Methoden. ErnährungsUmschau 6/2020: M336-M343

Hauner H et al. Leitfaden Ernährungstherapie in Klinik und Praxis (LEKuP); Aktuel Ernahrungsmed 2019; 44: 384-419

S3 Leitlinien DGAV et al. Version 2.3, Februar 2018 / https://register.awmf.org/assets/guidelines/088-001l_S3_Chirurgie-Adipositas-metabolische-Erkrankugen_2018-02.pdf

Vollwertig essen und trinken nach den 10 Regeln der DGE, DGE / https://www.dge.de/gesunde-ernaehrung/dge-ernaehrungsempfehlungen/10-regeln/