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Der besondere Fall – Spinale Muskelatrophie

Patientendaten:
  • Geschlecht: Männlich
  • Alter: 49 Jahre
  • Beruf: Softwareentwickler
  • Sport: 1x/Woche Physiotherapie
  • Kein Raucher
  • Trinkt gelegentlich Alkohol
Anamnese/ Fallbeschreibung:

Bei Herrn M. wurde im Alter von 13 Jahren eine Spinale Muskelatrophie (SMA) Typ 3 diagnostiziert. Die progrediente neuromuskuläre Erkrankung machte sich bereits einige Jahre zuvor bemerkbar, da die Mitschüler im Sportunterricht häufig schneller waren, während seine Oberschenkelmuskeln bereits nach kurzer Zeit ermüdeten. Heute ist Herr M. zwar noch gehfähig, doch längere Strecken legt er mit dem Elektromobil zurück (elektrisch betriebenes Fahrzeug für mobilitätseingeschränkte Personen). Die Kraftlosigkeit nahm im Verlauf auch im Bereich der Arme zu. Die Kau- und Schluckmuskulatur ist nicht betroffen.

Herr M. ist noch in der Lage seine Mahlzeiten selbstständig einzukaufen und zuzubereiten. Er ernährt sich omnivor, doch präferiert hin und wieder vegane Produkte (z.B. Hafermilch, Sojajoghurt, ..).

Nach dem Nutritional Risk Screening (NRS 2002) besteht bei Herrn M. keine Risiko für eine Mangelernährung.

Befunde und Diagnosen:

Herr M. hat zeit seines Lebens einen BMI im Normbereich, aktuell von 23,2 kg/m2 (Größe: 1,87 m; Gewicht: 81 kg). Die BIA-Analyse zeigt jedoch ein ungünstiges Verhältnis von Fett- zu Skelettmuskelmasse:

  • Phasenwinkel: 3,1°
  • Fettmasse: 24,2 kg und 29,8 % vom Gesamtkörpergewicht
  • Skelettmuskelmasse (ASMM): 21,2 kg
  • Skelettmuskelmasse-Index (ASMI): 5,7 kg/m2

Nach den überarbeiteten Grenzwerten der „European Working Group on Sarcopenia in Older People“ (EWGSOP2) erfüllt Herr M. mit einem ASMI von unter 7 kg/m2 in Kombination mit der vorhandenen Muskelschwäche die Kriterien für eine Sarkopenie, in seinem Falle aufgrund der SMA.1

Die Blutwerte zeigen neben einer erhöhten Kreatinkinase von 852 U/l (typisch bei SMA) eine 25-Hydroxy-Vitamin D3-Serumkonzentration von 21,2 ng/ml.

Mittels Knochendichtemessung (DXA) im Rahmen der Regelversorgung bei SMA wurde eine Osteoporose im rechten proximalen Femur diagnostiziert:

  • T-Score gesamt: -1,6
  • T-Score rechter Femur: -3,0

Ein 7-tägiges Ernährungsprotokoll zeigt eine Proteinaufnahme von ca. 0,7 g/kg Körpergewicht sowie eine Calciumaufnahme von ca. 550 mg pro Tag.

Herr M. wird für die SMA alle 4 Monate intrathekal mit Spinraza behandelt.

Ernährungstherapeutische Intervention:

Herr M. hat nach BMI zwar Normgewicht, doch zeigt die BIA-Analyse eine zu hohe Fettmasse, wobei diese besonders viszeral vorliegt. Zudem wurde eine Osteoporose diagnostiziert, welche in Zukunft medikamentös behandelt wird.

Energiebedarf nach BIA-Analyse:

  • Ruheenergieumsatz: 1780 kcal (nach Harris-Benedict)
  • Gesamtenergieumsatz: 2314 kcal (mit PAL 1,3)

Ziele der Ernährungstherapie:

  • Reduktion der Körperfettmasse
  • Erhalt der Skelettmuskelmasse
  • Ernährungsempfehlungen zur begleitenden Therapie der Osteoporose
  • Alkoholreduktion/-verzicht

Reduktion der Körperfettmasse:

Stufenweise Kcal-Restriktion auf zunächst 2100 kcal. Es konnte nach einigen Wochen keine Gewichtsabnahme festgestellt werden, weshalb auf 1900 kcal reduziert wurde. Auch hier kaum Gewichtsverlust. Erst bei 1800 kcal pro Tag zeigte sich eine Gewichtsabnahme mit Reduktion der Körperfettmasse nach erneuter BIA-Analyse.

Dazu erhöhte Herr M. seine sportliche Tätigkeit im Rahmen seiner Möglichkeiten durch eine zusätzliche Physiotherapiestunde sowie Aquagymnastik einmal pro Woche.

Erhalt der Skelettmuskelmasse:

Die tägliche Proteinmenge wurde auf mind. 0,8g/kg Körpergewicht gesteigert, um die verbleibende Skelettmuskelmasse zu erhalten.

Ernährungstherapie Osteoporose:

Steigerung des Vitamin-D-Blutspiegels auf mindestens 30 ng/ml über Supplementation in Kombination mit vermehrtem Aufenthalt im Freien zwischen April und September.2

Steigerung der Calciumaufnahme über calciumreiche Lebensmittel (z.B. Milchprodukte, Brokkoli, Grünkohl) auf die empfohlene Tagesdosis von 1000 mg. Herr M. achtete stark darauf mehr calciumreiche Lebensmittel zu sich zu nehmen. Er präferiert nun den Kuhmilch-Joghurt und ist von Hafermilch auf Sojamilch umgestiegen, welche mit Calcium angereichert ist. Dazu kauft er ab und zu calciumreiches Mineralwasser, wobei er Leitungswasser präferiert, da dies seine Armmuskulatur verglichen mit den schweren Glasflaschen weniger beansprucht. An den Tagen, wo die Deckung des Tagesbedarfs über die Ernährung nicht möglich ist supplementiert er Calcium.2

Die Kontrolle der Vitamin-D-Blutspiegels sowie die Überwachung der Calciumzufuhr sollte mindestens jährlich erfolgen.2

 Zusammenfassung/Schlussfolgerung:

Herr M. konnte im Verlauf der Behandlung seine Körperfettmasse von initial 29,8 auf 23 % reduzieren. Die Gewichtsreduktion konnte erst bei einer täglichen Zufuhr von ca. 1800 kcal erreicht werden, was weniger als erwartet war. Doch gerade bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen zeigt sich in der Praxis häufig, dass die Berechnung des Ruheenergieumsatzes – unabhängig davon welche Formel man nutzt – überschätzt wird. Die niedrige Skelettmuskelmasse ist ein großer Faktor, der zu einem niedrigeren Energiebedarf führt. Ebenso sollte von einem zu starken Energiedefizit abgesehen werden (Stichwort Crash Diäten), um einem Verlust der Muskelmasse unbedingt vorzubeugen. Hier muss vorsichtig vorgegangen werden, um die individuell richtige Kcal-Menge herauszufinden, die eine Körperfettreduktion ermöglicht, aber gleichzeitig die Muskelmasse erhält. Dazu muss selbstverständlich auf eine Deckung des täglichen Proteinbedarfs geachtet werden, was in diesem Patientenspektrum eine der wichtigsten Ernährungsempfehlungen ist.

Bei seinen sportlichen Aktivitäten achtet Herr M. darauf seine Muskeln nicht bis zur Ermüdung zu beanspruchen, da Muskelkater im Rahmen einer neuromuskulären Erkrankung unbedingt zu vermeiden ist. Trotzdem ist die Ausübung einer sportlichen Betätigung, unabhängig davon wie ausgeprägt diese stattfinden kann, sehr wichtig. Gerade Patienten, die nicht mehr gehfähig sind, sollten unbedingt Bewegung im Rahmen ihrer Möglichkeiten einbauen, um eine mögliche Fettmasseabnahme zu erleichtern (hier gibt es meist weniger Spielraum in der Kcal-Reduktion).

Das Risiko einer Osteoporose ist aufgrund der Immobilität und möglicherweise auch aufgrund krankheitsspezifischer physiologischer Mechanismen bei einer neuromuskulären Erkrankung ebenso erhöht.

In der Ernährungstherapie von Herrn M. galt es die Fettmasse zu normalisieren, die Muskeln durch ausreichende Proteinaufnahme zu erhalten, die Osteoporose begleitend ernährungstherapeutisch zu behandeln sowie individuelle Faktoren (wie Kau- und Schluckstörungen, verzögerte Magenentleerung, Reflux, Obstipation), welche häufig bei neuromuskulär Erkrankten vorkommen, zu beachten.

Ebenso wichtig sind eine detaillierte Anamnese zum Gesundheitszustand, Ressourcen im Umfeld (Familie, Freunde, Pflegepersonal) und zu körperlichen Fähigkeiten (Kochen, Einkaufen, ..), um zu ermitteln welche Empfehlungen umsetzbar sind.

Herr M. freut sich, neben den erwünschten gesundheitlichen Vorteilen der Ernährungstherapie, vor allem darüber, dass ihm nun Alltagsaktivitäten leichter fallen. Auch wenn der Muskelmassenverlust irreversibel ist, muss Herr M. nun weniger Gewicht mit seiner verbliebenen Muskelkraft tragen, wodurch eine verbesserte Mobilität erreicht werden konnte.

Fall eingereicht von:

Daniela Grote, ZEP München

Literatur:

Cruz-Jentoft A, Bahat G et al.: Sarcopenia: revised European consensus on definition and diagnosis. Age and Ageing. 2018 Sep 24;48(1):16–31. doi: 10.1093/ageing/afy169

Birnkrant D, Bushby K et al.: Diagnosis and management of Duchenne muscular dystrophy, part 1: diagnosis, and neuromuscular, rehabilitation, endocrine, and gastrointestinal and nutritional management. Lancet Neurol. 2018 Feb 3;17(3):251–267. doi: 10.1016/S1474-4422(18)30024-3